Small Molecule Drug Discovery
Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben in der Small Molecule Drug Discovery tätige Wissenschaftler von Boehringer Ingelheim zahlreiche für Patienten äußerst nutzbringende Arzneimittel entdeckt. Angetrieben von einer Unternehmenskultur, die uns unermüdlich nach neuen Wirkstoffen suchen lässt, erweitern unsere Wissenschaftler stetig die Grenzen dessen, was niedermolekulare Arzneimittel erreichen können. Unser Team stützt sich dabei auf neueste Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) und Kryo-Elektronenmikroskopie. Diese Ansätze bergen das Potenzial, die Erfolgswahrscheinlichkeit bei der Target-Identifizierung, dem Präparat-Design und der Priorisierung zu erhöhen. So können wir die Interaktion zwischen Wirkstoff und Target besser verstehen und hochwertige kleine Moleküle entwickeln – kovalente und nichtkovalente, aber auch neue Therapiemodalitäten wie Peptide, PROTAC (Proteolysis Targeting Chimera)-Degrader und Oligonukleotide.
Technologie für Innovationen zugunsten der Patienten
Neue Technologien in der Small Molecule Drug Discovery lassen uns Grenzen verschieben und Kandidaten für Targets finden, die bisher mit herkömmlichen Methoden medikamentös nicht beeinflussbar schienen. Mithilfe von Ansätzen wie dem strukturbasierten Wirkstoffdesign in Verbindung mit KI-getriebenen Methoden steigern wir unsere Fähigkeit, effektiv durch den weiten chemischen Raum zu navigieren. Dieser Prozess beinhaltet die Bestimmung des richtigen Startpunkts und liefert unseren Wissenschaftlern anschließend Hinweise zur Wahl der einzuschlagenden Richtung. Mit diesem Vorgehen wollen wir letztlich innovative Wirkstoffe entdecken, durch die das Leben von Patienten signifikant verbessert werden kann. Forschungsthemen in der Small Molecule Drug Discovery sind:
Strukturbasiertes Wirkstoffdesign
Im März 2022 wurde am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien ein neues hochauflösendes Mikroskop in Betrieb genommen, das die Forschenden des IMP und von Boehringer Ingelheim zu gleichen Teilen nutzen können. So haben die Wissenschaftler von Boehringer Ingelheim schnell Zugriff auf das Mikroskop, während gleichzeitig hochwertige Forschung am IMP möglich ist. Bei Boehringer Ingelheim setzen wir die Kryo-Elektronenmikroskopie in verschiedenen Projekten ein, insbesondere zur Bestimmung der Strukturen von Multiproteinkomplexen, integralen Membranproteinen, neuen biologischen Wirkstoffen und PROTAC-vermittelten ternären Komplexen von E3-Ligasen.
Degrader-Modalitäten
Protein-Degrader versprechen echte Hoffnung für die Entwicklung von Arzneimitteln gegen krankheitsverursachende Proteine, die bisher als medikamentös nicht beeinflussbar galten. Dieser Ansatz ist für die Strategie von Boehringer Ingelheim in der Onkologieforschung entscheidend. Das Small Molecule Drug Discovery Team in Wien verfolgt das Ziel, First-in-Class-Medikamente für Patienten zu entwickeln, für die derzeit nur sehr begrenzte Behandlungsoptionen bestehen. Protein-Degrader wie PROTACs bieten einen potenziell hocheffektiven Weg, auf sogenannte schwer beeinflussbare Targets wie KRAS einzuwirken. PROTACs sind aus zwei Untereinheiten bestehende kleine Moleküle, die durch einen Linker miteinander verbunden sind: Ein Ende bindet selektiv an das krankheitsverursachende Protein und das zweite verbindet sich mit einem zellulären Protein der E3-Ubiquitin-Ligase-Familie. Nach dem Herstellen der Verbindung markiert die Ligase das krankheitsverursachende Protein, damit es zerstört wird. Dieses markierte Protein wird dann vom Abfallentsorgungssystem der Zelle abgebaut, das es inaktiv werden lässt und selektiv den Zelltod der Krebszellen einleitet.
Kovalente Arzneimittel
Kovalente Arzneimittel, bei denen das Molekül eine irreversible Bindung mit seinem Target eingeht, können im Vergleich zu reversiblen Arzneimitteln viele pharmakologische Vorteile bieten und stellen bei Boehringer Ingelheim auch künftig ein Forschungsinteresse dar. Wir haben den Arzneimittelkandidaten entdeckt, der selektiv HER2 (humaner epidermaler Wachstumsfaktor-Rezeptor 2) bei nichtkleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) inhibiert. Bei HER2 kommt es bei 2-3% aller Patienten mit NSCLC zu onkogenen Mutationen. Viele der derzeitigen Inhibitoren sind durch ihre Aktivität gegen den Wildtyp des epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptors (EGFR) begrenzt, was zu einer dosislimitierenden Off-Target-Toxizität führt. Der neue kovalente Inhibitor bindet selektiv und kovalent an die Tyrosinkinase-Domäne sowohl des Wildtyps als auch mutierter HER2-Rezeptoren, wobei die Signalübertragung des EGFR-Wildtyps ausgespart und damit Toxizität vermieden wird. Dieser Inhibitor wird als orale Behandlung für Patienten mit spezifischen Mutationen im HER2-Gen entwickelt und befindet sich derzeit in klinischen Studien der Phase III.
Künstliche Intelligenz und Quantencomputer
Getreu dem Ansatz „Prognose vor Synthese“ versuchen wir, eine Vielzahl für die medizinische Chemie relevanter molekularer Eigenschaften für virtuelle Moleküle in silico vorherzusagen, bevor wir in die Synthese investieren. Große Machine-Learning-Modelle und Künstliche Intelligenz ermöglichen uns eine effizientere Sondierung des relevanten chemischen Raums und eine Priorisierung unserer experimentellen Tätigkeiten. Dabei nutzen wir große Mengen interner Daten, die über Jahrzehnte in unserem Unternehmen gesammelt wurden und als Grundlage für das Training leistungsfähiger Prognosemodelle dienen. In Zusammenarbeit mit mehreren Universitäten in Wien setzen wir neueste Technologien in Simulationen zu Machine Learning und Molekulardynamik ein. Im Rahmen einer Kooperation mit Google untersuchen wir das künftige Potenzial von Quantum Computing für die Wirkstoffentdeckung. Dabei hilft uns der Leitspruch „Prognose vor Synthese“ auch dabei, die Nachhaltigkeitsziele von Boehringer Ingelheim zu erreichen.
Photochemie
Die Photoredox-Chemie, bei der Licht zum Katalysieren von Reaktionen eingesetzt wird, ist zu einem Grundpfeiler der modernen organischen Synthese geworden. Fortschritte in diesem Bereich werden jedoch häufig durch nicht-standardisierte Rahmenbedingungen und eine fehlende genaue Steuerung entscheidender Parameter wie Lichtintensität und Temperatur beeinträchtigt. Um dem künftig Abhilfe zu leisten, haben unsere Chemiker einen Photoreaktor aus dem 3D-Drucker zur Verbesserung der Reproduzierbarkeit photochemischer Reaktionen sowie eine temperaturgesteuerte Multiwell Reaktorentechnologie entwickelt, mit der Photoredox-Katalysatoren präzise dosiert werden können. Innovationen in der organischen Chemie sorgen für eine zusätzliche Steigerung der Effizienz und des Anwendungsbereichs dieser Reaktionen. Chemiker von Boehringer Ingelheim haben diese Technologien für verschiedene Reaktionsklassen validiert. Die erfolgreiche Reproduktion bzw. Übertragung der Ergebnisse auf größere Plattformen in Experimenten mit hohem Durchsatz konnte das Potenzial dieser Fortschritte belegen.
Kooperationen sind entscheidend
Die Kooperation mit weltweit führenden Gruppen auf dem Gebiet der Identifizierung bzw. des Designs von Protein-Degradern ist für Boehringer Ingelheim ein zentraler Faktor, um in dieser Modalität eine Führungsrolle einzunehmen. Eine Partnerschaft mit Alessio Ciulli, einem der weltweiten Pioniere im Bereich PROTACs, und seinem Team an der University of Dundee, revolutioniert derzeit das strukturbasierte Design von PROTACs. Eine weitere Kooperation mit PhoreMost nutzt die Leistungsfähigkeit der unternehmenseigenen phänotypischen Screening-Plattform der nächsten Generation, um von Boehringer Ingelheim benannte krankheitsrelevante Signalwege zu untersuchen. In der Onkologie werden Wissenschaftler die Plattform zur Bestimmung neuartiger medikamentös beeinflussbarer bindender Schnittstellen nutzen, die benötigt werden, damit Onkogene ihre Wirkung entfalten.
Veröffentlichungen
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