Innovative Anfänge
Überblick
Die ersten 28 Mitarbeitenden stellten Salze der Weinsäure für Apotheken und Färbereien her. In den folgenden Jahrzehnten wuchs das Unternehmen von einer kleinen Weinsteinfabrik zu einem großen Pharmaunternehmen. Sozialleistungen für Mitarbeitende entwickelten sich dabei zu einem Eckpfeiler der Unternehmensphilosophie; einige dieser Initiativen entstanden unmittelbar nach der Jahrhundertwende. Die großen Erfolge in der Forschung und Entwicklung der Zwischenkriegszeit sind eng verbunden mit der Tätigkeit der Brüder Heinrich und Hermann Wieland. Im Jahr 1927 erhielt Heinrich Wieland den Nobelpreis für Chemie, eine außergewöhnliche Leistung, die seine Forschungsbemühungen belohnte, welche auch zur Markteinführung einiger Produkte von Boehringer Ingelheim beitrugen.
Als der Unternehmensgründer Albert Boehringer im Jahr 1939 starb, beschäftigte sein Unternehmen 1.500 Mitarbeitende. Seine beiden Söhne Albert und Ernst Boehringer sowie sein Schwiegersohn Julius Liebrecht übernahmen das Familienunternehmen und hatten bereits seit den 1920er-Jahren der Unternehmensleitung angehört, was den Übergang für diese nächste Generation vereinfachte.
Meilensteine und Wendepunkte
1885: Der Beginn
Albert Boehringer erwirbt eine kleine Weinsteinfabrik in Nieder-Ingelheim. Am 31. Juli 1885 wird sein Unternehmen in das Handelsregister aufgenommen. Unternehmerisches Denken lag in der Familie: Sein Großvater Christian Friedrich Boehringer (1791-1867) hatte, gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Christian Gotthold Engelmann (1787-1841), im Jahr 1817 ein Unternehmen in Stuttgart gegründet. Dieses Unternehmen mit dem späteren Namen C.F. Boehringer & Söhne zog im Jahr 1871 nach Mannheim um und wurde von Christoph Heinrich Boehringer, Alberts Vater, sowie von Ernst Boehringer, Alberts Bruder, geleitet. Albert sollte sein eigenes Unternehmen in Nieder-Ingelheim gründen.
Der Eingang zum Werksgelände um 1890
1893: Erste Durchbrüche
Reinheitsprüfung von Milchsäure
Bei Versuchen zur Herstellung von Zitronensäure entsteht durch unerwünschte Gärung Milchsäure. Doch Albert Boehringer stellt die Versuche nicht ein; er entwickelt das Verfahren weiter mit dem Ziel, im Industriemaßstab zu produzieren. Zwei Jahre später läuft bereits die Produktion, wodurch das Unternehmen zum Pionier der „biotechnischen“ Herstellung in großem Maßstab avancierte. Ebenfalls im Jahr 1895 meldet Boehringer Ingelheim das erste Patent für ein neues Verfahren zur Herstellung von Backpulver auf Milchsäurebasis an.
1902: Fürsorge für die Mitarbeitenden
Im Jahr 1902 gründet Albert Boehringer eine Betriebskrankenkasse für Mitarbeitende, damals „Fabrik-Krankenkasse“ genannt. Weitere Sozialleistungen folgen: Dazu zählen der Bau der ersten Werkswohnungen (ab 1903), ein Unterstützungsfonds für Mitarbeitende im Ruhestand (1905) und die „Christoph-und-Mathilde-Boehringer-Stiftung“ zur Unterstützung gebrechlicher Mitarbeitender (1909). Im Jahr 1910 hatten Mitarbeitende Anspruch auf 14 Tage bezahlten Urlaub – mit Fahrtkostenzuschuss. Um sicherzugehen, dass seine Mitarbeitenden den Urlaub zur Erholung nutzen, besteht Albert Boehringer darauf, dass sie ihm eine Postkarte aus dem Urlaubsort schicken. Daraus entwickelt sich eine jahrzehntelange Tradition. Außerdem erhalten ab dem Jahr 1912 alle, die mehr als 20 Jahre im Unternehmen tätig gewesen sind, eine Betriebsrente.
Fotomontage mit allen Mitarbeitenden anlässlich des 25-jährigen Jubiläums
1917: Gründung der Wissenschaftlichen Abteilung
Heinrich Wieland um 1930
Die Wissenschaftliche Abteilung, das Herzstück der Forschung und Entwicklung, wurde im Jahr 1917 auf Initiative von Heinrich Wieland (1877-1957) eingerichtet. Er war Chemiker und Cousin des Firmengründers Albert Boehringer. Die neu gegründete Abteilung ist verantwortlich für alle Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Säure-, Alkaloide- und Pharmabereich des Unternehmens.
Die Zusammenarbeit zwischen Heinrich Wieland, seinem Bruder Hermann und Boehringer Ingelheim lässt sich bis zur Jahrhundertwende zurückverfolgen. Durch die Forschungsaktivitäten der Wieland-Brüder nimmt das Unternehmen 1917 die Herstellung von Gallensäure und deren Derivate auf. Zehn Jahre später erhält Heinrich Wieland den Nobelpreis für Chemie für seine „Untersuchungen über die Zusammensetzung der Gallensäure und verwandter Verbindungen“.
1933-1945: Zeit des Nationalsozialismus
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wirkt sich auch auf Boehringer Ingelheim als produzierendes Unternehmen aus. So wird die Produktion von Konsumgütern nachgelagert oder eingestellt. Durch den Vierjahresplan (1936) wird die unternehmerische Situation – vor allem mit Blick auf die Rohstoffbeschaffung – noch schwieriger, da u.a. Einfuhr- und Devisenbeschränkungen eingeführt werden. In den Mittelpunkt der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Nationalsozialisten rückt zunehmend die Aufrüstung der Wehrmacht.
Die chemische Produktion in den 1930er-Jahren
Mit dem Kriegsbeginn im September 1939 werden bis Kriegsende immer wieder Mitarbeitende von Boehringer Ingelheim in die Wehrmacht einberufen. Zudem wird die Produktion von kriegswichtigen Tabletten- und Medikamenten sowie Koffein ausgebaut. Dabei werden an den Standorten von Boehringer Ingelheim bis 1945 auch rund 1.500 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus 12 Nationen eingesetzt. Eine detaillierte Studie zu Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus hat Prof. Dr. Michael Kißener (Universität Mainz) im Jahr 2015 vorgelegt.
1943: Ein neuer Standort in Biberach
Die deutsche Reichsstelle für Chemie erteilt Boehringer Ingelheim am 5. August 1943 die Auflage, für die Herstellung von Sympatol®, Aludrin®, Adrianol®, Lobelin® und Papaverin® Ausweichbetriebe zu errichten. Diese Anweisung ist eng verbunden mit dem Zweiten Weltkrieg, da eine Dezentralisierung der industriellen Produktion bei Luftangriffen notwendiger wird. Schließlich fällt die Wahl der Unternehmensleitung auf Biberach an der Riß, wo das Unternehmen bald darauf Sympatol® und Lobelin® konfektioniert.
1945 und 1946: Neue Anfänge
Vier Tage vor der Ankunft amerikanischer Truppen werden die Werkstore in Ingelheim im März 1945 vorübergehend geschlossen. Am 28. Mai 1945 kann die Arbeit wieder am Werk in Ingelheim aufgenommen werden. Ein Jahr später wird die Dr. Karl Thomae GmbH in Biberach an der Riß mit 70 Mitarbeitenden neu gegründet. Im selben Jahr wird die CELA (Landwirtschaftliche Chemikalien GmbH) gegründet, um Pflanzenschutzmittel gegen die Kartoffelkäferplage zu produzieren. Im Jahr 1948 kommt Olivin hinzu, das über mehrere Jahrzehnte kosmetische Präparate vertreiben sollte.
Produkte dieser Zeit
1895
Das Backpulvermittel auf Milchsäuremittel mit dem Namen „Boeson“ ist zugleich das erste Patent des neuen Unternehmens.
1912
Boehringer Ingelheim stellt mit Laudanon® die erste pharmazeutische Spezialität vor, ein Schmerzmittel bestehend aus sechs Alkaloiden des Opiums. Die effektive Markteinführung fällt in das Jahr 1915.
1920
Das Unternehmen führt des Herz- und Kreislaufmittels Cadechol® ein. Es handelt sich um ein Kampferpräparat, das mit Gallensäure wasserlöslich gemacht wird. Es ist das erste aus der Zusammenarbeit mit Heinrich Wieland entstandene Präparat.
1921
Die Wieland-Brüder isolieren aus der Pflanze „Lobelia inflata“ das Reinalkaloid Lobelin. Dieses wird als Lobelin® im gleichen Jahr eingeführt. Im Folgejahrzehnt beginnt die Großsynthese von Lobelin® sowie damit verbunden der Bau des ersten Forschungslabor in Ingelheim.
1931
Das Kreislaufmittel Sympatol®, ein Adrenalinabkömmling, wird eingeführt.
1941
Aludrin®, ein Atemwegspräparat, das in der Asthmatherapie völlig neue Wege weist, wird eingeführt. Dieses erste Asthmamittel eröffnete später auch den Weg zu den sogenannten Betablockern.
1946
Die Markteinführung des Schmerzmittels Thomapyrin markiert den Beginn eines sehr bekannten Produkts, das sieben Jahrzehnte lang große Verkaufserlöse erzielen sollte.