„Ich erlebe hier täglich, dass Vielfalt als Potenzial und nicht als Störung wertgeschätzt wird. Diversity zeigt sich auch darin, dass ich immer noch hier arbeite.“

Was bedeutet „Diversity“ für dich? In welcher Form betrifft dich dieses Thema ganz persönlich?

Diversity, Vielfalt, Anders-Sein sind für mich Lebensthemen. Ich wurde in der Schweiz geboren. Als weißer Junge. Ich bin groß geworden in Tansania und Zimbabwe, inmitten von ganz vielen verschiedenen Kulturen. Ich war es gewohnt, allein schon meiner Hautfarbe wegen aus der Menge zu stechen.

Ich bin trans*gender. Für mich bedeutet das, ich habe die Seele einer Frau, bin aber in einem biologisch männlichen Körper zur Welt gekommen. Die Rolle eines Mannes weiterzuspielen, war für mich unmöglich.

Das konfrontiert viele Menschen mit den Grenzen ihrer Komfortzone. Für manche ist das ein so extremer Bruch von dem, was für sie selbstverständlich ist, dass sie sehr heftig reagieren. Beispielsweise, dass Menschen – wie ich – nur deshalb vom Fahrrad gerissen und krankenhausreif getreten werden. Dass sowas nicht mehr passiert, treibt mich an, privat und beruflich.

Diversity bedeutet für mich, dass wir alle „dazugehören“. Dass wir alle in irgendeiner Form unseren wertschöpfenden Beitrag zum Funktionieren dieser Gesellschaft leisten, unseren Fähigkeiten und Talenten entsprechend. Das bedeutet für mich, dass unsere Unterschiedlichkeit nicht als ein Verstoß gegen die Konformität oder eine Beleidigung der Sitte betrachtet wird. Sondern als stärkere Breite an Lebenserfahrungen, von denen wir lernen können. Ein Zugewinn an Ideenvielfalt und eine Bereicherung an Schöpfungsgeist. Und wir dadurch eine tiefere Lebensfreude erfahren.

Eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich gemacht habe und die sich immer wieder bestätigt, bleibt, dass Respekt und Achtung eine Frage von gegenseitiger Wertschätzung sind.

Wie wird „Diversity“ in deinem näheren Arbeitsumfeld gelebt? Wie erlebst du Boehringer Ingelheim als Arbeitgeber, der sich dieses Thema als eine der Leitlinien auf die Fahnen geschrieben hat?

Wir als forschendes Pharmaunternehmen brauchen ja vor allem eins in großer Vielfalt: kluge Köpfe. Und ich erlebe hier täglich, dass genau diese Vielfalt als Potenzial und nicht als Störung wertgeschätzt wird. Hier treffen sich oberschwäbische Beständigkeit mit amerikanischem Unternehmensgeist, fernöstliche Flexibilität mit westlicher Struktur. Diversity im Alltag erlebe ich aber auch so, dass langjährige Erfahrungsschätze und jugendliche Kreativität genauso ihren Platz bekommen wie humanistische Achtsamkeit und wirtschaftliches Kalkül.

Diese Vielfalt zeigt sich ganz oft in meinem Umfeld. Ich bin Molekularbiologin, aber auch Lerncoach und Ausbilderin für Laborfachkräfte.

Wir als „Ausbildung“ sorgen aktiv dafür, dass unsere Lernenden möglichst vielseitige Horizonte mitbringen, Interessen und Stärken entwickeln. Meine Kolleg*innen und ich wollen dabei Vorbilder sein, für Neugier und Offenheit, für Entdeckungslust und Begegnung auf Augenhöhe.

Diversity zeigt sich auch darin, dass ich immer noch hier arbeite. Trans*gender zu sein, bedeutet, viel aufs Spiel zu setzen. Ohne, dass es jemals ein Spiel wäre. Bei der Gelegenheit möchte ich mich bei meinen Kolleg*innen ausdrücklich bedanken. Deren Unterstützung, Rückhalt und Zuspruch waren nämlich essenziell dafür, dass die Veränderungen in meinem Leben gut verlaufen sind.

Den Weg zu dir selbst zu finden, war sicher sehr schwierig. Was bedeutet aus dieser Warte „Mut“ für dich?

Mut bedeutet für mich, zu anderen Menschen zu stehen und sich für andere Menschen stark zu machen. Ganz besonders für die, die nicht für sich selbst einstehen können.

Mut bedeutet, sich Grenzen bewusst zu werden. Eigene Gefühle wahrzunehmen, zuzulassen und diese auch zu zeigen. Verletzlichkeit zu zeigen. Zuneigung, Vertrauen, Angst. Fehler eingestehen. Unwissenheit eingestehen. Seine Komfortzone zu verlassen. Grenzen zu übertreten und es anderen zuzumuten, sie an ihre Grenzen zu führen. Nicht mit Stärke, sondern behutsam, mit Achtsamkeit.

Mut bedeutet für mich ganz persönlich, dass ich in meinem privaten und beruflichen Umfeld offen und proaktiv damit umgehe, dass ich trans*gender bin.

Du warst viele Jahre mit einer Frau verheiratet und heute bist du mit einem Mann zusammen. Was bedeutet das für dich? Welchen Rat würdest du heute deinem jüngeren Ich geben?

Der Rat, den ich meinem jüngeren Ich geben würde, wäre: „Mehr zu mir selbst zu stehen und weniger anderen Menschen gefallen zu wollen“. Allerdings: Genau dieses ist als Mensch, der im „falschen“ Körper steckt, ganz extrem schwierig.

Vielleicht auch den Rat, früher eine „Transition“ zu wagen. Dies ist ein Thema, das mich oft und schmerzhaft umtreibt. Aber, heute erkenne ich, dass für jeden Schritt die Zeit reif sein muss. Die Frage „Was wäre gewesen, wenn?“ bringt mich nicht weiter.

Was meine Beziehung mit einem Mann betrifft: Ich bin bisexuell, das habe ich schon als Jugendliche erkannt. Ob Mann oder Frau, es ist ein Mensch, den ich lieben darf, dem ich mich verbunden fühle. Ich bin jedenfalls sehr glücklich mit ihm.

Wer oder was inspiriert und motiviert dich?

Mein Vater. Der sein Leben lang und unermüdlich dafür gearbeitet hat, dass es anderen Menschen besser geht. Dass sie Zugang haben zu Bildung, sauberem Trinkwasser, medizinischer Grundversorgung.

Mein Vater. Der als „old white man“ mit seiner Tochter Diskussionen führt, über Frauenbilder und Frauenrollen in verschiedenen Kulturen. Und sich dafür fremdschämt, wie in manchen Kreisen mit Frauen umgegangen wird. Der seinem Kind nachdenklich zugehört hat, als ich ihm anvertraute, dass er nie einen Sohn hatte. Dass er Vater einer Tochter ist.

Meine leibliche Mutter. Die ihr Leben voll und ganz dem Kampf gewidmet hat, für Frauenrechte, für Frauenwürde. Für die Selbstbestimmung von Frauen. In der Schweiz und in Palästina.

Meine Stiefmutter. Die viele Jahre ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, als Kurierin im Kampf gegen das südafrikanische Apartheid-Regime. Die ihre eigenen Vorurteile über den Haufen warf und einen weißen Mann heiratete.

Meine Schüler*innen. Die mich jeden Tag daran erinnern, wofür ich aufstehe und dass die Welt wunderschön und einzigartig ist. Von denen ich so viel mehr lerne, als ich ihnen beibringen kann.

Was ist dein Diversity-Appell an andere? Dein Wunsch an die Gesellschaft?

Wir Menschen sind dazu konditioniert, nach Unterschieden zu suchen. Eine archaische Überlebensstrategie, die uns heute viel kostet. Was den Menschen aber wirklich ausmacht, ist die Vorstellungskraft. Einfühlungsvermögen.

Was ich mir wünsche, ist, dass wir allgemein weniger Angst davor haben, anderen Menschen zu begegnen, die uns erst mal fremd erscheinen. Und ich hoffe, dass wir daraus erkennen, dass wir eigentlich viel mehr gemeinsam haben als die Dinge, die uns anders machen. Und natürlich hoffe ich, dass die, „die ich bin“, zwar interessant ist, aber nicht von gesellschaftlicher Bedeutung. Dass meine „Wertigkeit“ nur daran gemessen wird, was ich zur Gesellschaft beitrage, und wie ich anderen Menschen begegne.

Was mir auch sehr wichtig ist: Es reicht nicht zu sagen, „Ich diskriminiere niemanden. Sollen doch andere so sein, wie sie sind“. Eine gesunde Gesellschaft erfordert, dass sich die Stärkeren für diejenigen proaktiv einsetzen, die zu Wenige, zu schwach oder benachteiligt sind.