“Schnelle Fortschritte bei möglichen Kandidaten für klinische Studien erzielen”

Michel Pairet, Mitglied der Unternehmensleitung, erklärt warum Boehringer Ingelheim mit einem neuen Joint Venture seinen Einsatz im Kampf gegen medikamentenresistente Infektionskrankheiten ausweitet – und was diese Partnerschaft für das Unternehmen und die Zukunft bedeutet.

Boehringer Ingelheim, Evotec und bioMérieux gaben am Donnerstag, den 30. Juni, die Unterzeichnung einer Vereinbarung bekannt, durch die sie ein Joint-Venture-Unternehmen gebildet haben. Ziel dieses Unternehmens mit dem Namen “Aurobac, Therapeutics SAS”: die nächste Generation von Antibiotika zu erforschen und auf den Markt zu bringen. Aurobac wird bewährte Forschungsansätze und die Fähigkeiten von drei führenden Unternehmen bündeln, um einen neuen Ansatz in der personalisierten Medizin zu entwickeln, der Diagnostika und Therapeutika miteinander verknüpft. Wir haben mit Michel Pairet, Mitglied der Unternehmensleitung mit Verantwortung für den Unternehmensbereich Innovation, über den Hintergrund und die Bedeutung dieser neuen Partnerschaft gesprochen.

Michel, die Gruppe der G7-Staaten hat kürzlich den Anstieg von antimikrobiell resistenten Infektionen (Antibiotikaresistenzen) eine „stille Pandemie“ genannt. Würdest du dieser Aussage zustimmen?

Michel Pairet: Leider, ja. Der Anstieg von medikamentenresistenten ESuperkeimerregern, der vor allem auf den übermäßigen und falschen Gebrauch von Antibiotika sowie auf schlechten Infektionsschutz zurückzuführen ist, stellt eine Bedrohung für unsere Fähigkeiten dar, gewöhnliche Infektionen zu behandeln. Besonders alarmierend ist der schnelle und weltweite Vormarsch von multiresistenten und panresistenten Keimen, auch „Superkeime“ genannt. Durch sie können Infektionen entstehen, die man mit den derzeit zugelassenen Antibiotika nicht behandeln kann. Ein Routineeingriff wie ein Kaiserschnitt oder eine Hüft-OP könnte also potenziell lebensbedrohlich werden. Außerdem könnte es schwieriger werden, Komplikationen bei häufig auftretenden Krankheiten wie Diabetes zu behandeln. Das trifft ebenso auf Verletzungen aller Art zu, zum Beispiel Schnittverletzungen. Vielen Leuten ist einfach der Ernst der Lage nicht bewusst. Jedes Jahr sind bereits Antibiotikaresistenzen für 1,27 Millionen Todesfälle weltweit verantwortlich. Prognosen zufolge könnten im Jahr 2050 mehr als 10 Millionen Todesfälle pro Jahr auf Antibiotikaresistenzen zurückgeführt werden. Damit könnten Antibiotikaresistenzen potenziell gefährlicher werden als Krebs.

Und diese Pandemie, die sich ja bereits abzeichnet, wird verstärkt durch einen Mangel an Innovationen?  

Auch wenn die Wissenschaft viele neue Behandlungsansätze entwickelt hat, sind die Forschungsaktivitäten im Antibiotikabereich in den letzten 20 Jahren zurückgegangen. Denn trotz dieser düsteren Prognosen und den enormen Kosten, die mit Antibiotikaresistenzen bereits verbunden sind, gibt es kein tragfähiges Geschäftsmodell für neue Antibiotika und dementsprechend geringe Fördermittel, um die klinische Forschung zu unterstützen. Es kann dementsprechend sein, dass selbst erfolgreiche, dringend benötigte Antibiotika in der frühen Phase der klinischen Entwicklung nie über eine Hürde kommen, die ich als ein „Tal des Todes“ bezeichne. Denn diese Hürde, an der zahlreiche vielversprechende Entdeckungen nicht mehr weiterverfolgt werden, muss erfolgreich genommen werden. Nur so schaffen es auch vielversprechende Antibiotika in die Spätphase der klinischen Entwicklung, um dann schließlich bei den Patientinnen und Patienten anzukommen.

Das ist sehr bedenklich. Was kann Boehringer Ingelheim hier tun?  

Es ist unser Ziel, das Leben von Patientinnen und Patienten zu verändern. Das bedeutet, dass wir als unabhängiges und familiengeführtes Unternehmen die Freiheit besitzen, Gegenwart und Zukunft im Blick zu behalten: Mit unserem „First4Patients“-Ansatz forschen wir an Therapien, um Antworten auf die medizinischen Herausforderungen unserer Gegenwart zu finden. Gleichzeitig schauen wir auf die zukünftigen Herausforderungen im Gesundheitsbereich – und Antibiotikaresistenz ist definitiv eine dieser zukünftigen Herausforderungen. Wir bringen eine große Expertise und wissenschaftliche Führungskompetenzen bei der Forschung und Entwicklung neuer Antibiotikatherapien mit. Dazu zählen beispielsweise die Immunmodulation, Antikörperentwicklung und Impfstoffentwicklung. Wir haben mit Boehringer Ingelheim BioXcellence den größten biopharmazeutischen Auftragshersteller in unserem Unternehmen, und wir haben viel Erfahrung in der klinischen Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze.

Diese Diskussion rund um Antibiotikaresistenzen ist aber keineswegs neu. Warum kümmern wir uns jetzt darum?  

Mit dem Boehringer Ingelheim Venture Fund (BIVF) und unserem Research Beyond Borders-Team (RBB) haben wir schon seit langem nach neuen Ansätzen bei Antibiotikatherapien geforscht. Bereits im Jahr 2017 hat der Boehringer Ingelheim Venture Fund in das erste Startup investiert, das sich auf Antibiotikaresistenzen bei Infektionskrankheiten konzentriert. Unser Engagement in diesem Bereich wird auch im AMR Action Fund deutlich. Boehringer Ingelheim investiert 50 Millionen Euro in diesen Fonds, die Boehringer Ingelheim Stiftung weitere 50 Millionen Euro. Mit einem Gesamtinvestitionsvolumen in Höhe von einer Milliarde US-Dollar ist der AMR Action Fund ein breites Bündnis von Vertretern der Industrie und darüber hinaus. Das gemeinsame Ziel ist es, bis zum Ende dieses Jahrzehnts zwei bis vier neue Antibiotika zu den Patientinnen und Patienten zu bringen, indem man in hochinnovative Biotechunternehmen investiert, die sich auf antimikrobielle Infektionskrankheiten spezialisiert haben.

Boehringer Ingelheim, Evotec und bioMérieux bilden ein Joint Venture-Unternehmen, um die nächste Generation von Antibiotika hervorzubringen. Was kannst du uns über das neue Unternehmen „Aurobac Therapeutics SAS“ berichten?

Wie bereits erwähnt, engagieren wir uns seit einiger Zeit rund um antimikrobielle Resistenzen und haben deshalb nach einer Möglichkeit gesucht, um Innovationen in diesem Bereich weiter zu beschleunigen. Aurobac wird daran arbeiten, die vorhandene Strategie bezüglich antimikrobieller Behandlungsschemata zu verschieben. Derzeit liegt hier der Schwerpunkt auf empirischen Ansätzen, wobei Breitbandantibiotika und weitere, in ihrer Wirkung eher breit angelegte Medikamente zum Einsatz kommen. Wir möchten diesen Ansatz verändern, hin zur personalisierten Medizin. Dabei werden neuartige, hocheffektive und zielgerichtete Verfahren angewendet. Diese werden mit schnellen und umsetzbaren Diagnostikverfahren verbunden, um Erreger und ihre Widerstandsmuster schnell identifizieren zu können.

Dieses Joint Venture ist darauf eingelegt, ein hochagiles Biotechunternehmen zu schaffen. Wir werden den Arbeitsprozess eines Startups mit der Expertise und der Power eines global tätigen und forschungsgetriebenen Pharmaunternehmens verbinden. Dadurch kann Aurobac seine Fähigkeiten mit denjenigen seiner Partner verbinden – und selbst weitere Partnerschaften eingehen. Diese zusätzlichen Partnerschaften könnten aus der Grundlagentechnologie bis hin zur Molekulartechnik kommen. Und diese Technologien kann Aurobac weiterentwickeln.

Wer sind unsere Partner bei Aurobac?

Evotec bringt eine Expertise mit, die von der Entdeckung neuartiger Therapieverfahren bis hin zum frühklinischen Betrieb reicht. Bei Evotec hat man beispielsweise eine weltweit führende Plattform zu Infektionskrankheiten aufgebaut. Mit seinem mehr als 200 Mitarbeitenden umfassenden Team, das an Wirkstoffen gegen Infektionskrankheiten forscht, hat das Unternehmen eine nachgewiesene Erfahrung mit verschiedenen Wirkstoffklassen.

Der andere Partner bioMérieux hat über 55 Jahre Erfahrung im Bereich Diagnostika. Mehr als 75% des Forschungs- und Entwicklungsbudgets fließen in die Erforschung von antimikrobiellen Resistenzen. Dort sucht man nach einer Komplettlösung im Diagnostikbereich, welche die Entscheidungsfindung bei der Antibiotikatherapie vereinfacht. Man untersucht hier, wann die Behandlung beginnen sollte, wie sie optimiert werden könnte oder wann ein Medikament abgesetzt werden sollte.

Boehringer Ingelheim wird unter anderem seine Expertise bei der Entwicklung von Antikörpern, bei der Marktanbindung sowie bei der Kommerzialisierung einbringen. Was bedeutet unser neuer Fokus auf antimikrobielle Resistenzen für unsere bestehenden Therapiegebiete?

Unsere Schwerpunkte bei den Therapiegebieten bleiben bestehen: Herz- und Stoffwechselerkrankungen, Netzhauterkrankungen, Erkrankungen des Zentralnervensystems, Immunologie und Atemwegserkrankungen, Krebsforschung, Immunonkologie sowie Immunmodulation. Dass wir Aurobac gemeinsam mit unseren Partnern als externe Einheit aufbauen, war eine sehr bewusste Entscheidung. So ergänzen sich die einzelnen Expertisen dieser Partner gegenseitig. Durch seine Unternehmensstruktur wird es Aurobac möglich sein, schnelle Fortschritte bei möglichen Kandidaten für klinische Studien zu erzielen. Dort wird sich dann entscheiden, ob dieses Forschungsfeld künftig zu unseren therapeutischen Schwerpunkten zählen wird.

Warum befindet sich der Sitz dieses neuen Unternehmens in Lyon?

Das ist ein extrem glücklicher Zufall! Wir haben nicht nur Partner gefunden, die weltweit führend in diesem Bereich sind – es kommt noch besser: Alle drei Partner sind als Unternehmen bereits stark im Großraum Lyon vertreten. Dort befindet sich die Zentrale der Tiergesundheit von Boehringer Ingelheim, ebenso der Unternehmenssitz von bioMérieux und das Forschungslabor von Evotec. Das alles vereinfacht den Aufbau von Aurobac erheblich.

Michel, du hast bereits erwähnt, dass sich Unternehmen in der Vergangenheit damit schwergetan haben, ein sicheres Geschäftsmodell für neue Antibiotika zu entwickeln. Wird Aurobac ein solches Geschäftsmodell haben?

Unser Ziel ist es, hocheffektive und zielgerichtete Ansätze zu entwickeln, die die Kosten für die Forschung und Entwicklung ausgleichen. Aber es ist auch notwendig, dass alle Beteiligten dabei mithelfen, “Superkeime” zu bekämpfen. Das schließt auch die Politik und Regierungen ein, die für ihre Länder und Regionen eine unternehmerfreundliche Forschungslandschaft schaffen müssen.