Medikamentöse Behandlung der „Big Four“ der Onkologie
Dies ist der erste Artikel einer Reihe, die einen Blick auf jede der "Big Four" der Onkologie wirft. Es werden wissenschaftliche Durchbrüche hervorgehoben und es wird beschrieben, wie Boehringer Ingelheim plant diese "Big Four" medikamentös zu behandeln, um Krebs zu einer chronischen Krankheit zu machen und in Zukunft das Ziel zu erreichen, Krebs heilen zu können.
Darryl McConnell Ph.D.
Leiter der Krebsforschung bei Boehringer Ingelheim in Wien
Schon in den frühen achtziger Jahren, als ich in der Highschool meine ersten Chemiestunden hatte, waren die vier Hauptursachen für Krebs bekannt: RAS, P53, MYC und Beta-Catenin. Es handelt sich dabei um im menschlichen Körper befindliche Proteine, die, nachdem sie mutiert sind, für über die Hälfte aller Krebserkrankungen verantwortlich sind. Auf diese vier Proteine abzielende Medikamente besitzen das Potenzial, die Lebenserwartung der meisten Krebspatienten zu steigern. Die vier spielen im Leben einer Krebszelle eine solch entscheidende Rolle und sind dabei in der Arzneimittelentwicklung so schwer zu greifen, dass Wissenschaftler ihnen vielsagende Namen wie „schlagendes Herz des Krebses“ (RAS), „Wächter des Genoms“ (P53) oder „zentraler Regulator“ (MYC) gegeben haben. Beta-Catenin ist aus biologischer Sicht sogar dermaßen wichtig, dass es über einen eigenen „Zerstörungskomplex“ verfügt, damit es unter Kontrolle bleibt.
Skizze CANCER'S BIG 4 - Darryl McConnell Ph.D.
Leider gibt es auch nach über 30 Jahren Forschung noch immer keine Arzneimittel, die gegen eine dieser als „Big Four“ bezeichneten Krebsursachen zugelassen sind. Die medikamentöse Behandlung der „Big Four“ ist ein gleichzeitig so herausforderndes und vielversprechendes Ziel, dass sich jeder Chemiker, der in der Welt der Chemie etwas bewegen möchte, damit befassen sollte.
Krebs ist eine Erkrankung unserer Gene mit über 100 verschiedenen bekannten Unterarten. In den meisten Fällen kommt es über einen Zeitraum von 30 Jahren zu Mutationen in unseren Genen, die es den Krebszellen ermöglichen, sich schneller zu teilen, unsterblich zu werden und sich unserem Immunsystem zu entziehen. Das Genom von Krebszellen ist im Gegensatz zu dem gesunder Zellen von Natur aus instabil. Es kann die kaum vorstellbare Menge von bis zu einer Billion Mutationen enthalten, wobei nur einige dieser Mutationen für die Krebsentwicklung verantwortlich sind. Die übrigen Mutationen sind lediglich so etwas wie Passagiere. Es ist bekannt, dass die Mutationen von RAS, P53, MYC und Beta-Catenin die Haupttreiber von Krebs sind. Durch RAS ausgelöster Krebs macht beispielsweise rund 20% aller Krebserkrankungen, einschließlich fast aller Krebserkrankungen der Bauchspeicheldrüse sowie über 30% der Lungenkrebserkrankungen und beinahe die Hälfte aller Fälle von Darmkrebs aus.
Herkömmliche Medikamente funktionieren wie „Schlüssel“, die in „Schlösser“, die sich auf der Oberfläche von krankheitsverursachenden Proteinen befinden, passen und diese dann quasi per Schlüsselumdrehung ausschalten. Für die „Big Four“ konnten noch keine herkömmlichen Arzneimittel gefunden werden, da sie auf ihrer Oberfläche keine „Schlösser“ besitzen. RAS, P53, MYC und Beta-Catenin funktionieren durch die Interaktion mit anderen Proteinen mittels großer, flacher, sich ergänzender Oberflächen und machen deshalb eine neue Arzneimittelklasse erforderlich, die von Wissenschaftlern als „Protein-Protein Interaction Inhibitors“ („Protein-Protein Interaktionshemmer“) bezeichnet wird. Das Problem der Schaffung eines solchen „Schlüssels“ ohne existierendes „Schloss“ hat zu der weitverbreitenden Überzeugung geführt, dass RAS, P53, MYC und Beta-Catenin „medikamentös nicht behandelbar“ sind. Moderne chemische Ansätze stellen dieses Dogma jedoch infrage. Durch viele neue Erkenntnisse und entschlossene Forschungstätigkeit nähern wir uns jetzt diesen großen Herausforderungen der Krebsforschung wieder an.
Bei Boehringer Ingelheim ist es uns gelungen, auf allen untersuchten Proteinen „Schlösser“ zu entdecken. Dabei wurden kleine Teile von Arzneimittelmolekülen, sogenannte „Fragmente“, genutzt. Fragmente stellen zwar einen guten Ansatzpunkt für die Entdeckung von Arzneimitteln gegen Proteine wie die „Big Four“ dar, dennoch befinden wir uns erst ganz am Anfang dieses Prozesses der Wirkstoffentdeckung. Die Weiterentwicklung dieser Fragmente zu Arzneimitteln wird durch Entwicklungen an der Schnittstelle zwischen Biologie, Chemie und Physik ermöglicht. Mithilfe hochempfindlicher biophysikalischer Messmethoden sind wir mittlerweile in der Lage, fast jedes Molekül zu erkennen, das mit der Oberfläche eines Proteins in Berührung kommt. Darüber hinaus können Chemiker inzwischen dreidimensionale Bilder von Protein-Arzneimittel-Komplexen („Schloss und Schlüssel“) erstellen, auf denen jedes einzelne Atom klar sichtbar ist. Mit der Darstellung der sogenannten Röntgenkristallstrukturen, werden unsere Chemiker quasi zu „Atom-Schlossern“, die die Arzneimittelmoleküle der Zukunft präzise entwerfen können. Mir wird häufig die Frage gestellt, was wir machen, falls es uns nicht gelingt, Röntgenkristallstrukturen zu erhalten. Meine Antwort darauf bleibt stets dieselbe: „Dann versuchen wir es eben weiter“. Bislang haben wir noch immer einen Weg gefunden. Zu KRAS liegen uns beispielsweise schon über 400 solcher Bilder vor, also fast schon ein ganzer KRAS-Film. Diese Möglichkeit befähigt uns zu ganz neuen, vielversprechenden Ansätzen in der Entwicklung von Medikamenten.
Die moderne Arzneimittelforschung findet nicht hinter den verschlossenen Türen von Pharma-Unternehmen statt, sondern in Zusammenarbeit mit den weltweit führenden Akademikern des jeweiligen Bereichs. Wir sind stolz auf unser wachsendes Netzwerk an Kooperationspartnern, die alle mit großem Engagement das Leben von Patienten verbessern wollen und unsere Leidenschaft teilen, Medikamente für (vermeintlich) medikamentös nicht behandelbare Krankheiten zu finden. Unsere wissenschaftlichen Interessen und unsere Philosophie sind derart deckungsgleich mit denen von Professor Stephen Fesik und seinem Team von der Vanderbilt University, dass wir nun drei zentrale Krebstreiber, für die wir Medikamente entwickeln wollen, auf unserer Agenda haben: RAS, SOS und MCL1. Gemeinsam mit Alessio Cuilli und seinem Team von der University of Dundee untersuchen wir eine vollständig neue Arzneimittelklasse, die sogenannten „Proteolysis Targeting Chimeras“ (PROTACs), die eine der größten Innovationen der Chemie in den vergangenen Jahren darstellen.
Nur wenige Kilometer von unserem Forschungsstandort in Wien entfernt arbeiten wir darüber hinaus mit Professor Robert Konrat und seiner Forschungsgruppe von den Max-Perutz Laboratories der Universität Wien an der wohl am schwierigsten mit Medikamenten zu behandelnden Proteinklasse, den sogenannten intrinsisch ungeordneten Proteinen wie MYC.
Dies ist der erste Artikel einer Reihe von Beiträgen zu den sogenannten „Big Four“. Im Rahmen der weiteren Artikel wird auf bahnbrechende wissenschaftliche Entwicklungen eingegangen und beschrieben, wie Boehringer Ingelheim die „Big Four“ der Krebstherapie medikamentös behandelt, um Krebs in eine chronische Krankheit zu verwandeln oder, man mag es kaum laut aussprechen, ihn sogar zu besiegen.