Hilfe für die Ukraine: „Ich weiß, was sie durchmachen“
Mainz-Finthen, 07. April, 18:18 Uhr.
Travis Kelley reicht Olena P. die Hand. Stufe für Stufe nimmt die Ukrainerin die Treppe aus dem Flugzeug und steht schon bald auf dem Flugfeld in Mainz-Finthen. Sie atmet tief durch und schluckt. Sie und ihr bester Freund Wasyl sind in Sicherheit. Raus aus der Ukraine. Raus aus dem schrecklichen Krieg. Travis streichelt ihr behutsam über den Arm. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Es ist tatsächlich geschafft! Er winkelt seinen Arm an. Wasyl hakt sich unter und lässt sich zum Terminal führen. Olena und Wasyl sind blind.
Ohne Travis Kelley, einem Mitarbeiter von Boehringer Ingelheim und Co-Organisator der „Ukraine Air Rescue”, einem Verein, der eine Luftbrücke zur polnisch-ukrainischen Grenze aufgebaut hat, den Piloten Pascal Stadelmann und Manos Radisoglou, hätten es Olena und Wasyl kaum aus der Krisenregion geschafft. Fünf Menschen, die sich bisher nicht kannten, haben ihre Freizeit geopfert, haben ihre Sicherheit riskiert und haben sich bedingungslos vertraut. Sie haben jeder auf seine Weise Heldenhaftes geleistet. Und trotzdem drohte die Rettung aus dem Krisengebiet bis vor wenigen Stunden noch zu scheitern.
46 Stunden vor der Landung
Olena und Wasyl sitzen in einem Luftschutzbunker im Westen der Ukraine. Sie hören den Einschlag von Raketen. Bei jeder Detonation zucken sie zusammen. Die Freunde stammen aus dem Osten des Landes, sie wohnten jeweils unweit von Donezk, einer der am meisten umkämpften Städte in der Ukraine. Olena und Wasyl zögerten, ihre Heimat zu verlassen. Selbst als Freunde und Familie längst aufgebrochen waren. Doch wo sollten sie hin? Noch dazu mit ihrer Beeinträchtigung? Als der Raketenbeschuss aber immer weiter zunahm, gab es keine Alternative mehr. Sie flüchteten mit dem Zug gen Westen, landen in Lwiw. Doch auch hier wird die Kriegsgefahr zunehmend realer.
Luftbrücke in die Ukraine, um Flüchtlingen zu helfen
Längst setzt Travis Kelley alles daran, Olena und Wasyl aus ihrem Land auszufliegen. Patienten- und Hilfsorganisationen hatten sich an Kelley gewandt, nachdem diese gehört hatten, dass der Mitarbeiter von Boehringer Ingelheim Rettungsflüge organisiert. Mit befreundeten Piloten hatte er die „Ukraine Air Rescue“ gegründet: eine Luftbrücke zur ukrainischen Grenze, auf der Piloten ehrenamtlich Hilfsgüter transportieren und ukrainische Flüchtlinge nach Deutschland bringen. Travis telefoniert, besorgt einen Fahrer und Piloten; schafft Medikamente und Hilfsgüter heran, bestellt einen Flieger und die nötigen Start- und Landerechte. Er arbeitet bis zur Erschöpfung und darüber hinaus. Er weiß: Olena und Wasyl brauchen ihn.
21 Stunden vor der Landung
Travis starrt ins Leere. Er schüttelt den Kopf. „Das ist ein Alptraum“, flüstert er. Alles war organisiert. Er hatte einen Fahrer besorgt, der Olena und Wasyl allem Risiko zum Trotz aus dem Kriegsgebiet an die polnische Grenze fährt. Und dort in sichere Obhut übergibt. Jemanden, den er vertrauen kann; den er das Schicksal von Olena und Wasyl anvertrauen kann. Und nun das: Der Fahrer hat sich mit dem Coronavirus infiziert. Die ganze Rettungsaktion droht zu scheitern. Travis greift wieder zum Hörer. Ihm steht eine schlaflose Nacht bevor.
11 Stunden vor der Landung
Die Piloten Pascal und Manos hieven die letzten Hilfspakete in die beiden Maschinen, die gen Krisengebiet aufbrechen. Insgesamt 1100 Kilogramm an Hilfsgüter für die Ukraine haben die Piloten geladen. Darunter Insulin, OP-Masken, aber auch Leichensäcke. Pascal und Manos klatschen sich ab, wünschen sich einen guten Flug. „Auf Wiedersehen: in Rzeszów.
Manos ist schon abgehoben, als der 31-jährige Pascal auf seinem Pilotensitz Platz nimmt. Er checkt die Technik, nimmt Kontakt zum Tower auf. Vor sechs Jahren hat er bei der Schweizer Fluglinie SWISS seine Pilotenausbildung abgeschlossen. Er fliegt Vollzeit für seinen Arbeitgeber – und bis zu 30 Stunden die Woche ehrenamtlich für humanitäre Zwecke. Pascal hat soziale Arbeit studiert, danach Flüchtlinge in Asylfragen unterstützt. Das Helfen liegt ihm in den Genen. Er fliegt – wie auch Kollege Manos – für Seawatch übers Mittelmeer, um Schiffsbrüchige zu orten. Als Travis ihn anfragt, ob er an die polnisch-ukrainische Grenze fliegen kann, zögert er keine Sekunde. „Jedes Menschenleben zählt“, sagt er und startet den Motor.
6 Stunden vor der Landung
Olena und Wasyl haben es nach Polen geschafft. Travis konnte noch in der Nacht einen Ersatzfahrer besorgen. Am Morgen, in einer Feuerpause, verlassen sie Lwiw. Sie warten an der Grenze, müssen ihre Papiere vorzeigen, Fragen beantworten. Dann lassen die Grenzbeamten sie passieren. Die Zeit drängt, eigentlich sollten sie längst am Flughafen sein. Doch planbar ist unter diesen Umständen wenig.
Immerhin: Sie sind in Sicherheit, auch wenn diese, hier im polnischen Rzeszów, nur 100 Kilometer von der Grenze entfernt, noch trügerisch scheint. Der Regionalflughafen ist von der NATO in Beschlag genommen. Links und rechts der Start- und Landebahnen sind Flugabwehrsysteme aufgebaut. Truppentransporter der US Army und der deutschen Luftwaffe rollen über das Flugfeld.
Unterstützung für Patienten
Die Flugzeuge von Pascal und Manos sind unterdessen ausgeladen. In zwei Stunden soll es wieder zurückgehen. Mit Olena und Wasyl, und weiteren Flüchtlingen aus der Ukraine. Manos greift zu seinem Mobiltelefon. Er ruft Travis an, der in Mainz versucht, die Fäden zusammenzuhalten. Olena und Wasyl seien auf dem Weg, mit Verspätung würden noch drei Rollstuhlfahrer und Dolmetscherinnen eintreffen. Manos solle sich für den Abflug bereitmachen, Pascal werde vor Ort auf die anderen warten. So lange, wie nötig.
4 Stunden vor der Landung
Olena und Wasyl ziehen ihre Gurte fest. Manos reicht ihnen Ohrstöpsel. Dann startet er die Maschine. Retter und Gerettete machen sich auf den Weg nach Deutschland. 566 Meilen bei Gegenwind. In vier Stunden, so hat Manos ausgerechnet und Travis durchgegeben, erwartet er die Landung in Deutschland. Als die Maschine abhebt ist die Spannung greifbar: trotz des ohrenbetäubenden Lärms des Flugzeuges könnte es stiller nicht sein. Keiner spricht, alle sind konzentriert bzw. in Gedanken.
Olena und Wasyl sitzen schweigend in ihren Sitzen. Sie sind froh und dankbar, in Sicherheit zu sein, so haben sie es vor dem Abflug zu Protokoll gegeben. Aber die Unsicherheiten, wie es weitergeht, mit Ihnen und Ihrer Heimat, mache ihnen Sorgen.
07. April, 18:18 Uhr: Landung in Mainz-Finthen
Die Maschine landet pünktlich und ohne weitere Vorkommnisse. Pilot Manos steigt als erstes aus dem Flugzeug und läuft auf Travis zu. Eine kurze Umarmung. Ein erleichtertes Durchatmen. Sie haben es geschafft. Mal wieder. Gemeinsam helfen die beiden Olena und Wasyl aus dem Flieger. Es ist schon dunkel über Mainz, als die Flüchtenden den Flughafen per Auto verlassen und in eine blindengerechte Unterkunft in der Region gefahren werden.
5 Stunden und 17 Minuten nach der Landung
Das Mobiltelefon vibriert. Travis schreibt. Auch Pascal sei inzwischen in Mainz gelandet. Mit ihm seien weitere Patienten und Flüchtende sicher in Deutschland angekommen. „Ein großartiges Gefühl“, so Travis. Das mache all die Arbeit und einen 17-Stunden-Tag vergessen.
Bescheidene Worte eines besonderen Helfers.